Die Architektur der Londoner Milch Gallery ermöglichte eine räumlich komplexe Installation, in der ich sowohl mit Elementen der Wiederholung als auch der Dislokation arbeiten konnte.
Die zwei übereinanderliegenden Haupträume waren durch vier, den Boden bzw. die Decke durchbohrende Stahlkörper miteinander verbunden, die jeweils zwei Meter in den Raum vom Boden bzw. von der Decke hineinragten.
In beiden Räumen waren - diagonal gegenüberliegend - zwei äquivalente Videoprojektionen sichtbar. Bei beide Doppelprojektionen war jeweils eine der Projektionen gespiegelt.
Im oberen Raum war in der Projektion ein sich drehender Körper sichtbar. Eine sich regelmäßig hin und her bewegende Kamera zeichnete diese Drehungen auf, so dass es zu Bewegungs-Überlagerungen beider Aktionen kam. Der aufgenommene Videofilm wurde in den beiden vertikalen Projektionen zu einer Auf- und Ab-bewegung transformiert, die zwischen dem Boden und der Decke eingespannt war.
Auf dem Weg in den unteren Ausstellungsraum durchquerte man einen Treppenraum, in dem wiederum in Dopplung ein Videofilm auf kleinen Monitoren zu sehen war. Auch dieser Film wurde mit einer sich hin und her-bewegenden Kamera aufgenommen und zeigt das Betrachten eines weiteren TV- Monitors von oben, dessen Bild das Feedback der gleichen Situation um 90 Grad gedreht zeigt.
An der Wand befanden sich vier Stahlkonstruktionen mit einem kleinen Megaphon Lautsprecher im Zentrum. Jeweils zwei nebeneinander liegende Megaphone waren mit dem Gesicht aufeinander gerichtet. Stellte man sich dazwischen hörte man eine Person durch einen starken Hall erzeugenden Raum schreiten.
Im unteren Raum traf man neben den hier von der Decke hängenden Stahlkörpern auf die bereits erwähnte zweite diagonal gegenüberstehende Doppelprojektion. Diese zeigte den Gang durch eine weit verzweigte offenbar nie endende Industriebrache. Das Bild dieser Werkhallen und Gänge war invertiert und damit zu einem mentalen, abstrakten Raum transferiert. In diesem Raum wurde nun den erst nur hörbaren Schritten aus den Megaphon-Lautsprechern jetzt das bewegte Bild nachgeliefert. Diese formale Verbindung, als auch die Wiederholung der Elemente zog die Installation in allen drei Räumen zu einer gemeinsamen Arbeit zusammen. Man betrachtete jedes Element mit der Erinnerung und in Korrespondenz mit dem bereits Gesehenem.
Alle projizierten Video-Filme waren über die Länge von 40 Minuten ungeschnitten, also in einem „Take“ aufgenommen. Auch der sich wiederholende Parcours in dem verlassenen Industrieareal wurde ohne Schnitt absolviert.
Aus diesem Grund war der an sich beschrittene Weg von ca. 10 Minuten Dauer von mir mehrmals hintereinander absolviert worden. Ich kam zum Ende einer Runde immer so am Ausgangspunkt an, dass ich den Weg mit der Kamera in der Hand erneut ohne Absetzten fortsetzen konnte.
Wichtig war mir, dass die real praktizierte Wiederholung aus meiner Sicht einen körperlich wahrzunehmenden Eigenwert besitzt, den die rein technisch realisierte Wiederholung über digitale oder damals analoge Medien nicht haben kann.
1997, „Im Namen des Königs“ (deutsch), Ian Hunt
In Definitionen der Metonymie, jener rhetorischen Sprachfigur, in der ein Wort für etwas steht, mit dem es semantisch zusammenhängt oder üblicherweise assoziiert wird, findet man oft die schöne Formulierung container for the contained, auf deutsch etwa: "Behälter, Transporter für den Inhalt". Traditionelle, in zahllosen Wörterbüchern wiederholte Beispiele für den Gebrauch der Metonymie sind Glas für das, was man aus einem Glas trinkt, Turf (das englische Wort für "Rasen") für Pferderennen, die auf Grasbahnen ausgetragen werden, oder die Krone für das Königshaus, in dessen Namen ein Urteil ergeht. Doch der Versuch, die Metonymie als "Behälter für den Inhalt" zu definieren, reißt ein Loch in die Logik der Klassifikation mit ihren systematisch umkehrbaren Denkmöglichkeiten, das sich nicht so leicht schließen läßt, wie man ein Rätsel löst. Wie kann "der Inhalt" als solcher benannt werden, wenn er auch außerhalb des Behälters vorkommen kann? Da er aber nun einmal Inhalt genannt wird, muß er dieser Bezeichnung gehorchen, wo immer er hinkommt, er muß den Behälter, in dem er enthalten war, mitführen als Information, als interne Anweisung, vielleicht auch als Markierung, als ein Kennzeichen auf seiner kommunikativen Oberfläche. Allerdings sind, um diese Spekulation fortzusetzen, manche Kerne außerhalb ihrer Schale womöglich nicht mehr als Kerne erkennbar. Kultur und Erziehung enthalten gewiß nicht immer den Menschen, den sie hervorgebracht haben. Dafür sind zu viele Kinder von Kolonisatoren zu den Eingeborenen übergelaufen – und umgekehrt.
Enthalten zu sein scheint ebenso menschlich wie Irren und Sich-Verirren. Im ersten Raum von Till Exits Behälter ist das Enthaltene menschlicher Art. Allerdings kein verzauberter Streuner. Wir sehen, permanent wiederholt, einen liegenden jungen Mann, die Kamera fährt nervös über seinem Körper auf und ab. Sein Kopf, der Körperteil also, den wir oft überbeanspruchen, um die Identität oder den Charakter eines Menschen zu bestimmen, kommt nicht ins Bild, dafür sehen wir den Rumpf und die Beine, die unauffällige Kleidung und die Schuhe. Kein klares Anzeichen, wovon er der Inhalt ist oder welche Rolle er spielt.
Ein Behälter kann einen neutraleren Eindruck vermitteln als ein Mensch, er kann als etwas Naturgegebenes erscheinen, als etwas, das einfach da ist. Ein Gebäude kann über Jahre hinweg allmählich verfallen, doch solange die Mauern stehen, bewahrt es sich seinen Status als Gebäude. Wo eine Kultur als Behälter fungiert, das heißt als eine Eingrenzung, eine Anzahl von Regeln für unser Verhalten, unsere Erwartungen und Bestrebungen, bleibt ihr Einfluß vielleicht weitaus länger erhalten, als manche Reformer oder neue Machthaber es wahrhaben wollen, denn sie wird kollektiv praktiziert und subjektiv gefühlt, wird von den Betroffenen als ihre ureigene behauptet. Dies ist in der Tat ein neutraler Prozeß: auf kultureller Ebene können gute und schlechte Gewohnheiten reproduziert werden, gute und schlechte Praktiken. Wenn in einer Kultur eine Gangsterkarriere als möglich und anstrebenswert gilt, kann ein gesetzliches Verbot selbst über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinweg völlig wirkungslos bleiben. Ein förmliches Verbot von tief verwurzelten Überzeugungen oder das Verbot, eine Sprache zu sprechen, überhaupt jeder Versuch einer Begrenzung, Einschränkung auf kultureller Ebene kann manchmal im Gegenteil gerade das Überleben der vom Staat oder sonst einer herrschenden Instanz verbotenen Überzeugungen und Praktiken sichern, wenn sie in den faszinierenden, kreativen Bereich des Untergrunds getrieben werden.
Behälter für den Inhalt. Die spekulativen Möglichkeiten, die sich an dieser Formulierung entzünden können, sind damit noch keineswegs erschöpft. Um Till Exits Behälter näher zu kommen, möchte ich von den komplexen Fragen der kulturellen Entwicklung im Über- und Untergrund zu etwas anderem überleiten, das in engerer Beziehung zur Kunst steht – einem Spielzeug nämlich , das auf seine Art bestimmte formale Möglichkeiten und Denkmodelle auslotet. Der Reiz der russischen Matrjoschka-Puppen liegt darin, daß sie uns eine imaginäre Begegnung mit der Unendlichkeit verschaffen. Die letzte und kleinste Puppe, die in der vorletzten steckt, ist aus massivem Holz, doch bevor man sie erreicht, hat sich der Gedanke an eine möglicherweise unendliche Rekursion bereits festgesetzt. Man kann das Spiel wiederholen, doch jedesmal, wenn man die ineinandergeschachtelten Holzpuppen zusammensetzt und dann wieder auseinandernimmt, ist man irgendwie überrascht (und zugleich beruhigt) bei der Feststellung, daß man an ein Ende kommt. Genauso ist die größte Puppe mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Sie gleicht den anderen Puppen so sehr, daß der Eindruck entsteht, sie sei rein willkürlich zum Ende der Serie bestimmt worden, abgesehen davon, daß sie noch in einer Handspanne Platz findet. Warum gibt es keine nächste, noch größere Puppe? Aus demselben willkürlichen Grund, weshalb Essays ihren Gegenstand nicht hinter einer unendlichen Anzahl von Einleitungen verbergen. Doch die russische Puppen, oder auch Lieder wie "Große Flöhe haben kleine Flöhe auf dem Rücken, und die beißen, kleine Flöhe haben kleinere Flöhe ... (ad infinitum)", wecken in Kindern ein theologisches und wissenschaftliches Staunen, führen sie zu der Frage, wo ihr Platz in der Ordnung der Welt oder in den kleineren Ordnungen der Familie und der Generationen ist.
Weit davon entfernt, eine Spielzimmeratmosphäre zu schaffen, bewahrte Behälter in einem seiner Elemente doch jene Ahnung von Unendlichkeit, die Möglichkeit einer unendlichen Rekursion mittels Video-Feedback. Ein kleiner Schwarzweißmonitor am Ende eines auffällig massiven Stahlträgers, der im rechten Winkel aus der Wand in den Raum ragte, zeigte eine Gestalt, die in einen Monitor schaut. Die Kamera bewegt sich, ruhig und mechanisch, von einer Seite zur anderen, sie zeigt dieselbe Ansicht des Schauenden von hinten als Bild im Bild in einer Serie immer kleinerer Bilder. Die Gestalt verstellt uns den Blick auf ihren eigenen Fluchtpunkt. Vom Balkon aus kann der Betrachter ohnehin nicht immer deutlich erkennen, was genau mit der Gestalt, die auf den Monitor blickt, vor sich geht. Diesen Teil der Installation wird mancher vielleicht schnell übergehen, um sich den anderen, greifbareren Elementen in den übrigen Galerieräumen zuzuwenden, obwohl er zu einer meditativen Betrachtung einlädt, wie ein Blick in einen Teich oder – wie in Silence, einer früheren Arbeit Till Exits – in einen Brunnen. Dabei unterscheiden sich Material und Geschehen nicht von einer alltäglich-allnächtlichen Kameraüberwachung. Wachmänner – warum sind sie in heutigen Romanen und Filmen so selten geworden? – sind für mich so etwas wie die Schutzgeister von Behälter. Sie stehen, ebenso wie Galeriebesucher, auf vertrautem Fuß mit der Möglichkeit der Langeweile und mit dem Echo ihrer Schritte in leeren Gebäuden. (Aus den vier "Schallkabinen" im unteren Teil des Raums, in dem oben der Monitor hängt, hört man das gedämpfte Geräusch hallender Schritte.) Wachmänner sind es auch gewohnt, zu Zeiten zu arbeiten, wo andere eher schlafen. Behälter ist ein Nachtstück, gezeigt in einer Galerie, die eine Tür, aber keine Fenster hat: wenn man diese Räume betritt, sind die Tageslichtzeiten aufgehoben.
Zum oberen Teil der Installation gehören außer den beiden Videoprojektionen, in denen die Kamera sich über dem liegenden jungen Mann hin- und herbewegt, auch vier aufrecht stehende Monolithen aus Stahl von der Größe eines Menschen und von ausdruckslosem Äußeren. Man kann hier unmöglich von einem einfachen "Kontrast" zwischen der Pendelbewegung der Kamera über den unruhig sich bewegenden Körper (es ist der des Künstlers, aber wohl nur deshalb, weil er problemlos verfügbar war) und den vier Stahlelementen in der Mitte des Raumes sprechen. Welchen Aspekt des Verhältnisses zwischen diesen beiden Bestandteilen der Arbeit könnte das Wort "Kontrast" zu erklären oder umschreiben versuchen? Andererseits möchte natürlich niemand, der diese Arbeit zum ersten Mal sieht, meinen, daß es hier keine Möglichkeit einer denkbaren Beziehung gibt.
Anzumerken ist, daß die beiden Videoprojektoren auf eigentümliche Weise und ungewöhnlich hoch an zwei massive vertikale Stahlträger geschraubt sind, die vom Boden bis zur Decke reichen, und nicht etwa mit ihrem Eigengewicht auf einem Sockel ruhen. Sie vermitteln den Eindruck, als ob das ganze Gebäude als in sich strukturierter, jedoch autarker Behälter einer imaginären Drehung um 90 oder gar 180 Grad unterzogen, das heißt, einem Befehl des Künstlers unterworfen worden wäre. Alles in dieser Ausstellung scheint festgeschraubt, selbst die schweren Monolithen, weshalb mich in diesem Raum das Gefühl ergreift, hier sei versucht worden, das Gesetz der Schwerkraft aufzuheben. Dieser Gedanke bringt mich zurück zu den Wachmännern, oder zu Gestalten aus einer früheren Zeit: Soldaten auf Schildwache. Was passiert mit dem Körpergefühl für Oben und Unten, Rechts und Links, wenn man während der gesamten Dauer einer Wache reglos in einer starren, aufrechten Positur verharrt? Elias Canetti schreibt in dem Kapitel "Der Befehl" in Masse und Macht:
Eine Schildwache, die stundenlang regungslos auf ihrem Posten steht, ist der beste Ausdruck für die psychische Verfassung des Soldaten. Er darf nicht weg; er darf nicht einschlafen; er darf sich nicht bewegen, außer wenn ihm gewisse, genau abgesteckte Bewegungen vorgeschrieben sind. Seine eigentliche Leistung ist der Widerstand gegen jede Verlockung, seinen Posten zu verlassen, in welcher Form immer sie an ihn herantreten möge. ... Alle die fließenden Anlässe zu Unternehmungen, wie Lust, Furcht, Unruhe, aus denen das Leben der Menschen so wesentlich besteht, unterdrückt er in sich. Er bekämpft sie am besten, indem er sie sich nicht einmal zugesteht.
Canettis Interesse gilt dem Befehl und hier vor allem der Verinnerlichung im nächsten Moment zu erwartender Befehle – etwas, das in der heutigen Erfahrung noch immer gut verankert ist, auch wenn die Wehrpflicht heute nicht mehr überall gilt. Canetti schreibt weiter über die Auswirkung der Verbote auf den Körper des Soldaten:
Die Sphäre des Nicht-Erlaubten, mit der jeder schon als Kind vertraut gemacht wird, erweitert sich für den Soldaten ins Riesenhafte. Mauern über Mauern werden um ihn errichtet; man leuchtet sie für ihn ab, man läßt sie vor ihm wachsen. Ihre Höhe und Strenge kommt ihrer Deutlichkeit gleich. Es ist von ihnen immer die Rede, er kann nicht sagen, daß er sie nicht kennt. Er beginnt, sich so zu bewegen, als ob er sie immer um sich fühlte. Das Eckige des Soldaten ist wie das Echo seines Körpers auf ihre Härte und Glätte; er bekommt etwas von einer stereometrischen Figur.
In den ersten Überlegungen zu der Formulierung "container for the contained" schien es, daß sich der Inhalt eher als menschlich charakterisieren ließ als der neutrale "Behälter". Hier nun können wir sehen, daß ein Mensch, der die Erwartung eines Befehls wie auch die Mauern und Verbote um sich herum verinnerlicht hat, mit der Zeit die Züge einer stereometrischen Figur annimmt. In diesem Sinne, denke ich, sind die Metallmonolithen in Behälter keine Behälter für eine Figur: Sie sind Verkörperungen der ultimativen Form einer Figur, die sich so sehr darauf eingestellt hat, Befehle zu befolgen, daß sie schließlich deren Eckigkeit, deren Härte und Glätte angenommen hat. Den Befehl auszuführen, wird unter diesen Umständen zum einzigen Ausweg:
Wer sich das volle Maß des Verbotenen auf diese intensive Weise einverleibt hat, wer durch die Verrichtungen eines vollen Tages – und Tag für Tag – beweist, daß er dem Verbotenen auf das genaueste auszuweichen versteht, der erst ist wirklich ein Soldat. Für einen solchen hat dann auch der Befehl einen erhöhten Wert. Er ist wie der Ausfall aus einer Festung, in der man zu lange liegt. Er ist wie ein Blitz, der einen über die Mauern des Verbotenen hinüberschleudert; wie ein Blitz, der nur manchmal tötet. In dieser massenhaften Öde des Verbotenen, das sich auf allen Seiten um ihn erstreckt, kommt der Befehl als Erlösung: die stereometrische Figur belebt sich und setzt sich auf Befehl in Bewegung.
Behälter hat ein Oben und ein Unten. Der untere Raum, größer, eleganter und offener als der obere, enthält ebenfalls vier Stahlmonolithen, die ich nun als stereometrische Figuren benennen kann. Sie sind exakt unterhalb derer im oberen Raum an die Decke geschraubt. Die Videoprojektionen zeigen hier nicht dieselbe Figur wie oben, sondern einen endlose Folge von Schwenks. Wir sind in die leere Hülse einer verlassenen Fabrikhalle versetzt. Die Projektion ist, wie die stereometrischen Figuren, auf den Kopf gestellt. Die Kamera bewegt sich durch eine labyrinthische Folge von leerstehenden Fabrikräumen: links, rechts, geradeaus, rechts, links, links, geradeaus, hindurch, nur nicht zurück, und ohne den Ausgang zu finden. Man verliert bald die Orientierung: nicht nur, weil man alles auf dem Kopf sieht, sondern auch weil der Weg ein ums andere Mal abknickt und weil es in diesem Gebäude keine Anhaltspunkte für das Gedächtnis zu geben scheint, die hoffen ließen, daß man im Kopf einen Plan dieses Gebäudes fabrizieren könnte. Unaufhörlich werden Richtungswechsel befohlen, diktiert, erwartet. Etwas Derartiges zu sehen ruft womöglich einen anderen Eindruck hervor als es am eigenen Leib zu erfahren, doch die Distanz ist schwer aufrechtzuerhalten: Die Nähe zum Befehl ist zu übermächtig, wie bei einem Videospiel, von dem man ganz in Bann gezogen ist.
Hier ist ein Aspekt der Funktionsweise des menschlichen Gehirns von Bedeutung. Wir unterscheiden zwischen einer Wegbeschreibung, die für kurze Strecken taugt (an der Kreuzung links, die zweite rechts, dann wieder links, an der Tankstelle vorbei, rechts halten, und da ist es dann ...), und Plänen oder Landkarten – mentalen ebenso wie wirklichen –, die uns einen umfassenden Überblick nach den Himmelsrichtungen Nord, Süd, Ost und West geben und es ermöglichen, unseren Weg zu finden, ohne "blindlings" einer Serie von Anweisungen zu folgen zu müssen. Wegbeschreibungen benötigen eine egozentrische Wahrnehmung des Raums und Reaktionen auf bestimmte Anhaltspunkte, sie sind handlungsorientiert und unflexibel: Wenn man einmal den Weg verloren hat, ist er schwer wiederzufinden. Bei dieser egozentrischen Raumwahrnehmung spielt der parietale Kortex im Gehirn eine besondere Rolle. Kognitive Pläne und Karten verlangen dagegen eine Koordination von körperlichem Handeln und räumlichem Gedächtnis, um die Beziehungen zwischen Orten, Entfernungen und Richtungen zu verstehen. Diese Raumwahrnehmung ist eher allozentrisch als egozentrisch und beansprucht vor allem den Hippokampus, der oft als einer der "höherentwickelten" Gehirnbereiche bezeichnet wird. Die neurophysiologische Forschung bestätigt damit den intellektuellen Unterschied zwischen Plänen und Wegbeschreibungen.
Was ich damit sagen will, ist, daß in diesem dritten und letzten Raum von Behälter zwar ein Zusammenhang mit einer Gesamtstruktur angelegt ist, die wir mental kartographieren könnten, doch die verwirrende Folge der zahllosen Rechts- und Linksschwenks repräsentiert einen geistigen Zustand, in dem einem die Möglichkeit, eine Gedächtniskarte zu erstellen, verwehrt ist. Rechts und links sind selbst um 180 Grad verdreht: Würde das Bild "vom Kopf auf die Füße gestellt", dann wäre rechts links und links rechts. Kognitive Karten zu erstellen ist eine menschliche Form des Handelns; sie sind eine Möglichkeit für den, der überleben will, ohne ständig bereit sein und auf Reizketten reagieren zu müssen. Hier wird also ein Experiment mit uns ausgeführt, aber nicht in sadistischer Absicht; vielmehr ist es Teil eines Versuchs, herauszufinden, wie gut wir damit zurechtkommen, wenn wir uns mit dem Befehl in seiner ultimativen Form identifizieren sollen: einer Abfolge von unzusammenhängenden Segmenten ohne ersichtlichen Sinn, denen wir dennoch aus Furcht oder Gewohnheit gehorchen. Und doch ist da etwas in uns und in unserer Gesellschaft, das sich nicht darein ergeben will; so wie jeder Sieg, den der Wachsoldat gegen die Müdigkeit erringt, sowohl ein Befolgen des Befehls bedeutet als auch den persönlichen Sieg seines Willens – der Befehl verfügt über ihn, doch der Wille ist sein eigener.
[Zitate aus: Elias Canetti, Masse und Macht, München: Hanser, 1994, S. 1994, S. 367-369; UB ger w ...]