1995
„Beyond II“, Projektgalerie Leipzig, (solo show)
Second part of the project „Beyond“, installed in an empty industrial building in Leipzig Plagwitz
concept
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1994 fand ich in dem ehemaligen Leipziger Schlachthof eine Kettenzuggarderobe, auch als Waschkaue bekannt. Mich beeindruckte, dass auch die Arbeitssachen daran hängend oder auf dem Boden liegend zurückgelassen worden, was unmittelbar auf die Menschen verwies, die einst diese Garderobe nutzten.

Ich wollte diesen Zustand dieser eingefrorenen Geschichte in eine Arbeit übersetzen. Dazu demontierte ich die gesamte Garderobe, und suchte einen neuen Ort für eine Re-installation. Dieser sollte wesentlich größer sein als der originale Raum, der in seinen Ausmaßen nicht größer als die Waschkaue selbst war.

Im Raum für meine Re-Installation wirkte nun die Waschkaue wie eine Skulptur die in einem undefinierbaren Nichts existierte. Es gab weder Anzeichen für angrenzende Waschgelegenheiten, noch war zu ermitteln, warum diese Kettenzuggarderobe sich so prominent im Raumzentrum befand.

 

Von der Kleidung vom Originalfundort habe ich Replikate aus Seiden- bzw. dünnem Chinapapier hergestellt. Diese erschien im Vergleich zu den rostigen, teilweise wie Fleischerhaken wirkende Hängebügel als verletzliche Membrane. Die darunter installierten Spotscheinwerfer waren mittels Computersteuerung gedimmt und hellten den Raum langsam auf bzw. ließen in wieder ins Dunkel verblassen.

 

Diese Installation wurde 1996 von Klaus Werner für die Galerie für zeitgenössischen Kunst Leipzig erworben.

 

 

1995, „Über den Wert von Erinnerungen musst du streiten“ , Klaus Werner

veröffentlicht im Buch "Kodierter Raum/Coded Space" 1997

Im Frühjahr 1995 entdeckt Till Exit in den aufgegebenen Anlagen des Schlachthofes in Leipzig eine ›Waschkaue‹. Seit Generationen pflegten Arbeiter eine solche Seilzuganlage zur platzsparenden und sicheren Aufbewahrung ihrer Bekleidung zu nutzen. Was im Theater sozusagen als Kulisse ›on demand‹ in Bereitschaft gehalten, auf die Bühne gesenkt und ihr wieder entzogen wurde, sichtet der Künstler im Erblastenfonds einer zerbrochenen Gesellschaft. Die raumdramaturgische Reserve dieses hang-over im Zustand seiner bildhaften Symbolik als ›Sozial-Schrott‹ muss Exit sofort bewusst geworden sein. Er demontierte die Anlage und konzipierte eine Installation in der VOXXX - Galerie Chemnitz. Realisiert wurde schließlich das Projekt im Herbst des gleichen Jahres – dann aber in zwei Teilen ›Beyond Part I‹ (Chemnitz, VOXXX - Raum), ›Part II‹ (Leipzig, Gießerstraße 16).
In seinen Texten spricht Exit leicht redundant vom »Eingriff in den Raum als Störgröße gegen das Gedanken-Bild« und von der »Verletzlichkeit der Existenz«. Das klingt wie das Trauma eigener Geschichte zwischen Akademie und Ausbruch. Es skizziert die Prinzipien der letzten Jahre: den Dialog zwischen gefundenem und geschaffenem Raum und dessen Kennenlernen als Entität im Bewusstsein des Betrachters – die stets vergleichende Wahrnehmung von Kunstwerk und ablaufender Zeit.
In der Tat versuchte der heute dreiunddreißigjährige unter dem Ballast ostdeutscher ›Gesellschaftsbilder‹ hervorzukriechen. Er meldete sich früh zu Wort. Der Widerspruch der politischen Wende zwischen Verändern und Erhalten trieb ihn
eher an, als dass er den Künstler – wie viele – in ein Vakuum entließ.
Einige Zeit trug Exit die Bilder als Gedächtnistopografie
mit den Splitterungen und Absenkungen von mentaler Landschaft noch bei sich (›Blur‹, 1993; ›Flood‹, 1994). Aus dem Halbdunkel kommen und da hinein verschwinden sie wieder. Ihre Nachbildung als Form oder Konterform in metallischen Netzen leitet zu seinen späteren ›Installations-Psychologien‹ über, die die Wahrnehmung von ihren Inhalten entfremdet und eine Betroffenheit der Orte im Betrachter erzeugt. Das authentische Tableau wird vom authentischen Künstler ersetzt. Mit proto-poetischer Einfühlung in die neuen Werkzeuge wie Schweißbrenner oder Bohrmaschine und dem Genuss seiner ›technischen Sinne‹ wendet er sich gegen literarische Schaumstoffe aller Art. Er wechselt vom Boden in die ansteigenden Ebenen oder Durch- und Übergänge, wohin der Betrachter dem Künstler möglichst körpernah zu folgen hat. Dafür benutzte er Roste und Gitter, Projektoren, Relais, Kabelrollen – gefunden auf den Liquidationshalden der volkseigenen Industrien. Die Verengung der Wahrnehmungskanäle stresst (Überwindung von Hindernissen). Völliges Verlöschen des Lichtes erzeugt Bewegungsunfähigkeit (›Sink of Time‹, 1993) und___________ ›erweitert‹ durch eben dieses Beleuchten. Spots werden über und unter den Podien montiert, Stimmungen aufgebaut und abgebrochen. Die Schaltgeräusche moderieren den Weg durch die Installation als fließenden oder stakkatohaften Wechsel von Augen-Blicken.
Es dämmerte: Kunst und Erkenntnis mussten von den Instrumenten geteilt und in Stücke geschnitten werden. Nach
Duchamp, Beuys, Bacon oder Rachel Whiteread weiß man, dass die Metaphern der Moderne nicht mehr offen vor unseren Füßen liegen. Sie ruhen in einem Kommunikationskonflikt mit der sichtbaren Welt. Statt griffigem Installieren zwischen Gut und Böse arbeiten Abdruck, Antiform, Organ-Mechanik oder die Zustände der Auflösung. Der Erzieher ist abgemeldet. Exit entdeckt das, ohne zu erschrecken. Er gibt sich kühl und ist es nicht. Er implementiert den vorsichtigen Aggressionen seine Eigenschaften. Wo er diese im Raum aufspürt, um sie aus der öffentlichen Belanglosigkeit herauszuschneiden, unterliegen sie einer Beatmungsvision des bedrohten individuellen und kollektiven Lebens.
Der Zeitgeist der Kunst scheint heute zwischen Halluzination und Destruktion verklemmt zu sein. Destruktiv ist Exit insofern, als er den Überlieferungen von ›Stand-Bildern‹ als Volumen eines Augenblicks nicht mehr gerecht werden kann. Die Bilder, die er noch zulässt, verständigen sich zuerst mit dem Körper, dann mit dem Kopf. Das ästhetische und gnostische Dilemma zwischen Beleuchten und Erleuchten des schwarzen Raumes – die meisten seiner Installationen sind auf den Punkt 0 (völlige Dunkelheit) bezogen – ist für die Moderne eine Altlast. Sie glaubte, sie längst abgestoßen zu haben. Die reine Ratlosigkeit tischt sie dem Künstler immer wieder auf.
Robert Whitman bedient sich in ›Theater-Art-Pieces‹ wie ›Shirts and Clouds‹ einer simplen Zwischenlösung: Videosonne und -wolken spiegeln sich auf einer zum Trocknen in die Galerie gestellten Altkleidersammlung derart, als ob »... these quietly hypnotic assemblages might be thought of as machines for frustrating conventional wisdom and inducing poetic consciousness« (Ken Johnson). Man könnte aber auch mit Olaf Metzel den »Ausbruch aus der Ghettoisierung der Kunst« auffassen als Aufschrei zusammengequetschter Garderobenschränke und sie zum »originalen Moment von Bildhauerei« erklären (›Bond Store Lockers‹, 1990).
Tatsächlich bietet die Kunst zwischen machine dreams und Handgranaten noch Strategiespiele. Die Technik des Sich -Selbst -Versicherns in gezügelten Visionen wird au fond zum öffentlichen Lernen, die anschließende Flucht aus den Orten zum absichtliches Vermeiden von Resultaten.
Innerhalb der bisherigen Installationen verdient das Doppelprojekt ›Beyond‹ besondere Beachtung. Es resümiert Exits dramaturgisches Arbeiten im Raum als Bis-Dato-Erfahrung: Das ›Prinzip Beleuchten‹ (i) und das ›Prinzip Erleuchten‹ (iI) teilen sich die Suchaufgabe vom Individuum in der Gemeinschaft als Beschreibung einer Zustandsfolge, deren Siamesische Zwillinge ebensogut ›Ergreifen‹ und ›Ergriffenheit‹ heißen könnten. ›Beyond‹ – ein Fall ohne wirkliche Personen, aber mit den gruppendynamischen Konflikten einer Umbruchgesellschaft im Kunst­raum.
Kapitel I werden ein Stahlschrank, ein Bett, ein in die Höhe gezogener Überwurf zu den Antagonisten der Stillegung zwischen Sanktuarium (Gewölbekapelle) oben und Kohlenhalde unten. Ein Raster von Leuchtstoffröhren vermittelt zwischen den vertikalen Schnittpunkten des VOXXX-Raumes und den Standorten der Objekte. Exit protokolliert Endzeit. Ihr Sarkasmus ist die Mitleidlosigkeit. Die Kaue ( lat. cavea, ›Höhlung‹) ist in Wirklichkeit eine Ein - Mann -Apparatur. Statt Blaumann hängt eine Nylonlarve an der Kette. Die aufkommende Nostalgie der verstoßenen Geräte bindet sich an die Bodengeometrie als rationale Ordnung im Raum. Die Spekulationen über eine Hinrichtung verblassen in der von einem sich drehenden Projektor betriebenen Enthüllung der Artefakte im Standbereich. Ein gefrorener Blick.
Die Umsetzung des Verlorenen im Entleerten wiederholt sich in ›Beyond II‹. Exit findet in dieser doppelten Verneinung von Funktionen jetzt einen transitorischen Resonanzboden.
Die Ergriffenheit eines makabren ›kollektiven Ruhestands‹ bekommt einen Unterton von Pathos.
Jetzt installiert Exit die komplette Kaue in eine Halle. Diese ist zunächst ebenso beräumt wie die Industriebrachen von Leipzig - Plagwitz nebenan. An den Ketten hängen auf engstem Raum fast hundert weiße Überwürfe – gleich jenem einzelnen aus dem VOXXX-Raum. Sie drängen sich vor dem Gebälk des Dachbodens. Den Projektor ersetzt eine Stimme: Sie flüstert »beyond«.
Als Norbert Radermacher 1991 die Waschkaue der aufgegebenen Zeche Holland in Bochum -Wattenscheid zu Gesicht bekam, bekannte er sich zu einer einzigen autoritären Geste, die der Sinnveränderung. Er platzierte ein Schild ›Die Bibliothek‹ und verließ den Raum. Exit steht demgegenüber unter dem Diktat seiner Herkunft, und das besagt, dass ein Konzept im Augenblick zu wenig ist.
Beide Stationen von ›Beyond‹ lösen sich körperlich aus ihrer Vorgeschichte, da sie eines neuen Ortes inmitten einer sich verändernden Zivilisation bedürfen. Es sind Orte einer Stadt. Sie kommen für den Besucher aus dem empirischen Dunkel der Neutralität und erzeugen weniger eine Geschichte als ein
Modell der Verständigung zwischen den lost objects und der Architektur. Die mögliche etymologische Verknüpfung des Wortes ›beyond‹ mit ›weiter als‹, ›darüber hinaus‹ und ›jenseits‹ macht synchron zum ›fließenden‹ Licht bewusst, dass jede Entgrenzung hier die Natur ihrer eigenen Festsetzung erfährt. ›Beyond‹ ist das ideale Stichwort für Idee und Installation als Habhaftmachung eines sozialen Diskurses zwischen Technik und Schicksal, zwischen Resignation und Resurrektion. Im Scheitelpunkt des Raumes droht – nein, besänftigt das körperlose Sein der kollektiven Hülle wie ein letzter Brückenschlag zur Erde. Abschied ins Niemandsland dieses Ortes ist ästhetischer Genuss. Keiner kann sich dem entziehen. ›Beyond I‹ verriet die Gründe und skizzierte den Plan. ›Beyond II‹ meldete den Vollzug.
Exit räumt ein, »...dass die Gleichzeitigkeit von Eingebundensein und Distanz als schier unmögliches Unterfangen erscheint«. Viel Abstand zum Betrachter schafft er nicht. Zu schnell hat er ihn wieder neben sich. Die Entzerrung der Metaphern in ›Beyond II‹ benötigt mehr Zeit als in jeder anderen Arbeit zuvor. Im Marsch auf die spirituelle Spitze der Pyramide im Dachgebälk ist die Rolle der Installationsmaschine als Anti-Imitations-Waffe kaum wahrzunehmen. So bleibt der Betrachter zurück und vermag die Grenze zur Stadt – obwohl in der Stadt stehend – nicht zu durchbrechen. Ein Geschäft, welches Künstlern wie Nancy Rubins mit ihrem hängenden Flugzeugschrott, Matratzenpaketen, den Trailers und Hot Water Heaters als ›Monuments to Megalopolises Past and Future‹
gnadenlos zu gelingen scheint. Vergleichbar sind die Konzepte indessen nicht, da Exit den Konsumenten an den Entwicklungen teilhaben und nicht in den Graben werfen will.
Ob wir dafür noch unschuldig sind, ist fraglich. Der Schmerzvertrieb ist industrialisiert. Eva Aeppli hat unlängst – um bei der Ikonologie der fiktiven Strangulation oder der
hinrichtenden Erhöhung (›Beyond‹) zu bleiben – darauf verwiesen, dass die stress codes unserer Zivilisation die Gene längst infiziert haben (Aeppli/Tinguely, ›O.T.‹, Reinstallation 1996 in der Kunsthalle Burgdorf). Die Helfershelfer der Gewalt arbeiten im Erbgut: Eine im Halbdunkel verborgene Maschine (Tinguely) zieht mit ihrer absurden Mechanik sechs an einen Querbalken gefesselte Gestalten (Aeppli) lustvoll nach oben. Aber sind Tinguelys Apparate je grausam gewesen? Kann man ihnen überhaupt verantwortliches Bewusstsein zuerkennen? Der allemannische Zynismus ist jedenfalls Exits Stichwort nicht. Für ihn ist es jetzt wichtiger, in den Dichotomien von Phantasie und Erkenntnisräumen, von Zittern und Schweißen, von Apparat und Verletzung zu reden. So muss er die Folgen mildern, die Resultate unter dem Schutz der künstlerischen Illusion zeigen, statt mit dem Eingeständnis vorzuprellen, dass Dekor, Unterhaltung oder Kommerz als Symmetrien des modernen Kunstgenusses längst in der Zeitspur stehen. Sie sind unschlagbar,
ein Massenphänomen, denn »...ihr Motor ist die fort­laufende
Entgrenzung zwischen Kultur und Warenwelt.« (B. Guggenberger).
Die Liste der Entschuldigungen ist lang. Auch wer alle Spiegel zerschlägt, macht die Wünsche nicht hinfällig. In Violas Videoinstallation ›Buried Secrets‹ (Station 4: ›The Veiling‹) werden aufgehängte, transparente Tücher benutzt, um von der Wirklichkeit aus auf die Phantome zu greifen. Vom Beamer projiziert, schreiten ein Mann und eine Frau durch den Wald. Der Besucher kommt dazu, lässt sich anschießen, ist einer derer, die einschreiten und auf leuchten, ist Lebender und virtuelle Kunstfigur – wenn auch, wie die Vorlage des persischen Dichters Rumi aus dem 13. Jahrhundert zu erkennen gibt, eine delikate Metamorphose der Natur ihre Visionen dafür zur Verfügung gestellt hat, denn »when seeds are buried in the dark earth their inward secrets become the flourishing garden.«
Exit wünscht sich ein Publikum, das dem misstraut, was es genussvoll sieht, aber nicht vergisst, was es erfahren hat. Folgte man diesem Ansatz einer Demontage der Illusionen im Durchgang durch den Raum, dann ist die Reihenfolge von ›Beyond I‹ und ›II‹ genau falsch gewählt, denn in der Leipziger Komplementärfassung arbeitet Exit zu eindrucksvoll zum ›point of no return‹, dem Transzendieren im Kunstlicht, hin. Betrachtet man hingegen ›Beyond‹ als Dramulett, indem der Menschheit Gerechtigkeit in Gestalt anhaltender Wiederherstellung ihrer Werte durch die Mumifizierung ihrer Hüllen widerfährt, wäre die gewählte Reihenfolge richtig. Beides scheint möglich! Dann läge aber der Schluss nahe, hier handele eine evokative Stimmung als Memento mori mit größerer Überzeugung als die konstruktive Vernunft zwischen den Topoi und den verbrauchten Materialien. Vielleicht!
Im Schlussbild von ›Buried secrets‹ erscheinen drei Frauen im gesitteten Stil von präraffaelitischen Göttinnen mit Sandalen und Tunica »which locates the action anywhere between Berkely and Bethlehem«. Exit bedarf noch immer seiner eigenen Welt. Er scheint zu wissen, jeder Schnitt mit dem Trennschleifer in den Schrott hinein ist eine minimale Konfiguration mit sich und einer unbekannten Größe. Arbeiten heißt anwesend sein. Der verbrauchte Satz erreicht hier Gültigkeit.
Klaus Werner — Leipzig, Frühjahr 1996