2000
„Sieben Interventionen“, Installationen
exhibition project in five private appartments and two gallery spaces in the public gallery oft the city Baden Baden
concept
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Das Ausstellungsprojekt entstand anlässlich eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes in Baden-Baden. Hintergrund ist die Frage, welche künstlerische Intervention ist in einem bürgerlichen Wohnraum möglich. Inwieweit kann man installativ und dennoch subtil in das bestehende Interieur eingreifen.

 

Dazu gab es insgesamt sieben Arbeiten. Zwei davon scheiterten und wurden durch  zwei Arbeiten in den städtischen Ausstellungsräumen ersetzt.

 

2000, „Eingriff und Einwand - Wiederholung und Differenz“, Bernd Künzig

veröffentlicht im Katalog "Sieben Interventionen" 2000

Kunstwerke in privaten Räumen sind in der Regel Teil einer dialogischen Beziehung zwischen dem Bewohner und einer von ihm gewählten ästhetischen Position. Oftmals unterliegt ein derartiger Dialog dem Verständnis der Ästhetik als einer Lehre des Schönen, bei der die Gesetze der Harmonie und des Gleichklangs gewichtiger sind, als die der dialektischen Spannung eines Gegenüberverhältnisses, bei dem zwei eigene Standpunkte aufeinandertreffen. Installationen in Privat­räumen stellen in diesem Sinne eher eine Ausnahme dar, da eine solche künstlerische Handlung pointiert das räumliche Gefüge verändert und dadurch die Dialektik gegenüber der Harmonie als Prinzip der Auseinandersetzung in den Vorder­grund tritt. Das Kunstwerk entzieht sich dem bloßen Nutzwert des schönen Scheins. Mit dem Begriff der "Intervention" eröffnet Till Exit für eine derartige Vorgehensweise einen doppelten Diskurs. Zum einen handelt es sich um den materiellen Ein­griff, den der Künstler mit seinen Installationen in den fünf Räumen der jeweiligen Baden-Badener Privatwohnungen und den beiden Ausstellungsräumen des Alten Dampfbades vorgenommen hat, zum anderen geht es um den Einwand, der ein mentales, denkerisches Feld öffnet, das den Wahrnehmungsvorgang, damit die ästhetische Umformung dieser vorgegebenen und vorgefundenen Räumlichkeiten meint. Zentral für die künstlerische Auseinandersetzung ist dabei zunächst das sich Einlassen auf spezifische Komponenten des Raumes, die nicht nur durch optische Maßeinheiten vorgegeben sind, sondern die auch im Bereich des Wohnumfeldes soziale und vor allem sehr individuelle und intime Momente miteinschließen. Die Differenz von Eingriff und Einwand wird im Vergleich mit dem auf den ersten Blick verwandten Ausstellungsprojekt "Chambre d'amis" deutlich, das Jan Hoet in Gent durchgeführt hat. Dort ging es um das Thema der Gastfreundschaft, mit dem "nomadisierende" Künstler für einen begrenzten Zeit­raum eingeladen wurden, in den zur Verfügung gestellten Privatwohnungen eine Ausstellungssituation zu inszenieren. Im Sinne der Gastfreundschaft sollte dies vor allem ein geistiger und ästhetischer Gewinn für die Genter Bevölkerung darstellen: harmonische Aussöhnung zwischen Privatheit und künstlerischer Öffnung. Demgegenüber bedeutet die Inter­vention Till Exits in den Gasträumen die Infragestellung des Gewohnten durch die künstlerische Handlung des Eingriffs und Einwands. Insofern geht es um eine neue optische Anschauung, die auf den bisherigen Nutzraum übertragen wird. Der persönliche Raum wird so durch fremde Elemente über- und neugeschrieben.

Deutlich wird die Vorgehensweise Till Exits mit seinem Eingriff, den er an der privaten Bibliothek eines Kunsthistorikers vorgenommen hat. Zunächst nimmt sich die Vorgehensweise recht unscheinbar aus: Die Bücher einer von vier dicht bestückten Regalwänden werden Exemplar für Exemplar in weißes Papier eingeschlagen. Eine Seite dieser Gelehrtenhöhle, eines wissenschaftlichen Arbeitsbereichs, hellt sich dadurch optisch auf. Es entsteht eine eindrucksvolle Abfolge unterschiedlichster weißer Körper, die die Schönheit einer vereisten, verschneiten Steilwand bilden - dies bildet den Eingriff. Auf der anderen Seite wird der Diskurs des Wissens verdunkelt. Bibliotheken unterliegen bestimmten Ordnungsprin­zipien, die nützlich sind, um Wissen auffinden, abrufen und verarbeiten zu können. Die Verhüllung der Bücher überschreibt auch ihre Titel-Inschriften und reduziert das Ord­nungsprinzip der Bibliothek auf rein formale Gesichtspunkte. Dem Wissenschaftler, der nun nicht die Oberfläche der Form im Auge hat, sondern sich auf der Suche nach der inneren Substanz befindet, wird nicht nur die Arbeit erschwert, sie wird im Sinne des Einwands geradezu in Frage gestellt. Für den Benutzer dieser Bibliothek bedeutet die Intervention des Künstlers einen ästhetischen Gewinn, dessen Preis mit dem Verlust des reinen Nutzwertes zu bezahlen ist, in dem die Ordnung der Dinge in einem weißen Strahlen aufgehoben wird. Die Orientierung, die hierbei erschwert wird, ist die der geistigen Anschauung.
In der Installation im Alten Dampfbad wird die semantische Doppelung des Interventions-Begriffs zum tatsächlichen doppelten Raumgefüge. In die beiden, durch eine leichte Ab­dunkelung in ein diffuses Zwielicht getauchten Räume wird zweimal die gleiche Situation gestellt. In der Mitte des Raums befindet sich ein überdimensionales Zeichenmodell eines Kirchengebäudes mit Hauptschiff und Kirchturm. Auf die Seitenwände des Raums sind kleine laterna-magica-artige Diaprojektoren gerichtet, die in regelmäßigen zeitlichen Abständen Diaprojektionen von Soldaten aus verschiedenen Kriegen der Weltgeschichte in Fußbodenhöhe an die Wand projizieren. Wo das Kirchenmodell mit seinem spitzen Turm zur Höhe des Raums strebt, da öffnet sich über den extrem niedrig positionierten Projektoren die weiße Wand als ein übergroß proportionierter Leerraum, in dem nun der Körper des Betrachters selbst eine merkwürdige Zwischenposition einnimmt: Zu groß für eine ungehinderte Wahrnehmung der Projektionsbilder, zu klein um das Kirchenmodell als einen Raum sakraler Erhabenheit betrachten zu können. Zunächst entsteht eine dialektische Spannung zwischen dem Macht­diskurs der Soldatenbilder, die aus kanonenähnlichen Projektionslinsen auf die Wand geschossen werden und jenem moralisch-theologischen Diskurs, der sich im Raumzeichen des Kirchenmodells verkörpert. Andererseits ist dieser kirchenförmige Raumkörper eine symbolische Projektion der realen, dem Ausstellungsgebäude benachbarten Stadtkirche in den Binnenraum. Demgegenüber sind die projizierten Dia-Bilder nicht nur in ihrer zeitlichen Flüchtigkeit Phantome, sondern verkörpern durch das zeitlich gesteuerte Auf- und Abdimmen der Leuchtbilder einen Vorgang der Beleuchtung: die diffusen, punktuellen Lichtflecken gleichen sich dem Dämmerlicht des Gesamtraumes an, ohne diesen letztlich zu erhellen. Durch die Doppelung des Arrangements in zwei Räumen wird das Raumdenken und das räumliche Gedächtnis des Betrachters auf eine Probe und in Frage gestellt. Die Gleichzeitigkeit dieser installativen Wiederholung ist für den Betrachter nur in der zeitlichen und räumlichen Sukzession konstruierbar. Eine offene Frage bleibt, ob die Einblendung der gleichzeitigen Projektion und Beleuchtung sich zum gleichen Zeitpunkt mit dem gleichen Diabild abspielen wird. Aus einer theologisch, göttlichen Position des Allwissens, die sich im Zeichen der Kirchenform symbolisiert, mag die Gleich­zeitigkeit und Wiederholung des Eingriffs eine Tatsache sein, gegenüber dem irdischen Verhaftetsein der Betrachtung in den sukzessiven Koordinaten der Raum- und Zeiterfahrung wiegt der Einwand schwerer, der auf die grundlegende Differenz der Räume verweist. Die so in Frage gestellte Identität der Räume führt zugespitzt zur Infragestellung der Identität der Beobachtung, die im einen Raum Gegenwart ist, um mit dem Gang in den anderen bereits Vergangenheit zu werden. Um der grundsätzlichen Differenz der Identität als einer Schwankung und eines seltsamen Gleitens in Zeit und Raum als physischer Erfahrung gerecht zu werden, müsste nicht nur die optische Anschauung, sondern auch das körperliche Bewusstsein in den Zustand einer fast schizophrenen Doppelung oder der stereoskopischen Zusammenziehung von zwei Bildeindrücken zur Simulation eines räumlich, gleichzeitigen Hintereinanders versetzt werden.

Die Unmöglichkeit einer derartigen körperlichen Doppelheit in Zeit und Raum und die grundsätzliche Wahrheit der Differenz, die als Eingriff und Einwand offenbar wird, zeigt sich im Leuchtkasten an der Treppenwand, der Projektion, damit Ein-Bildung und Beleuchtung zugleich ist. Das Bild, das von Innen heraus strahlt, könnte Vorlage eines stereoskopischen Dias sein, zu dessen Betrachtung jedoch der optische Apparat fehlt. Tatsächlich handelt es sich um das Foto von Zwillingen, das zugespitzt gesprochen, Zeichen einer genetischen Ver­doppelung, einer damit möglichen Reproduktion und Spaltung ist. Diesem Leuchtkasten antworten zwei, den Kirchenmodellen verwandte, Hausformen, die im Raum, aus dem die Treppe nach oben führt, wie Wucherungen aus der Wand in diesen hineinstoßen. Sie verkörpern dergestalt den genetischen Code der Außenform des Hauskörpers, in dem sie sich befinden, wachsen jedoch zwillingshaft als um neunzig Grad gekippte Mutationen als Binnenformen in den Innenraum und schränken dadurch dessen ursprüngliche Leere ein. Auch hier wird die gleichzeitige raum-zeitliche Erfassung unmöglich, da nur das Durchschreiten des Raums und die Drehung um eine Blickachse ein Erfassen in der Sukzession ermöglicht. Während die Zwillinge des Leuchtkastens zugleich zu erfassen sind, aber nicht nur als genetische Kopie, sondern auch als Trick des optischen Spielzeuges eines stereoskopischen Fotos bildliche Wiederholung sein könnten, bleibt die höhere Wahrheit der gleichzeitigen räumlichen Wiederholung zweier Hausformen nur als Erfahrung der Differenz möglich. Der Eingriff der angebrachten Hausformen steht als physikalisch-materieller Einwand gegen die optische Erfahrung der Wiederholung im Zwillingsfoto des Leuchtkastens. Umgekehrt wird der Leuchtkasten als Beleuchtung des Raums auch zur Erleuchtung der grundsätzlichen Differenz von Zeit und Raum, indem der Anschein genetischer Wiederholung auch eine fotografische Reproduktion sein könnte, während sich die Identität der Wiederholung in den beiden Hausformen gerade in der Sukzession der körperlichen Erfahrung des Raums als dessen Durch- und Umschreiten offenbart.
Die Erfahrung des Raums und das künstlerische Sich-Einlassen auf diesen ist als eine ästhetische, damit geistige Erfahrung immer auch eine der Spiritualität, nicht im Sinne einer theologischen Erfahrung, sondern einer der Verrückung.

Diese Verrückung fällt bei der Intervention in einem dreißig Meter langen Wohnungsgang in den Blick. Die räumliche Präsenz eines Einblicks in diesen Gang vom Eingang aus, lässt dieses übergroße Rechteck als ein Zusammenschnurren des Raums im Fluchtpunkt erkennen. Er verflüchtigt und verkleinert sich in einem Punkt, der nie erreicht werden kann, weil er gegen Unendlich sich verlängert. Der profanen Garderobe an der linken Gangseite antworten auf der gegenüberliegenden rechten Wand eine Aneinanderreihung scheinbar schwebender transparenter, von hinten durch Neonröhren erleuchteter Kleidungshüllen aus filigranem Seidenpapier. Die Neonröhren wiederholen noch einmal den doppelten Vorgang von Projektion und Beleuchtung, in dem sie den körperlosen Hüllen ein auratisches Strahlen verleihen, das doch nur vom kalten Licht einer industriellen Leuchte herrührt. Magie und Profanität gehen dergestalt eine Symbiose ein, die in der langen Gangkonstruktion einen Sog ins Unendliche imaginieren. Nicht ohne einen semantischen Hintergrund verwendet Till Exit dabei noch einmal jene Papierhüllen, die er bereits in einer Installation mit dem bezeichnenden Titel "Beyond", zu deutsch Darüberhinaus, verwendet hat. War dort die Bewegung dieser auratisch beleuchteten entkörperlichten Hüllen nach oben ausgerichtet, so wird sie im Gang in die Horizontale gekehrt. Das Vorbeischreiten im engen Gang ist ein stetiger Vorgang des Wandelns und Wandels, der schließlich dann offenbar wird, wenn der Blick sich mit dem Körper am Gangende umkehrt und die raum-zeitliche Bewegung scheinbar rückwärts unter vertauschten Seitenperspektiven abzulaufen scheint. Die Bewegung zurück in einem zeitlichen Nachher und einem räumlichen Gegenüber zerbricht nun endgültig die Wiederholung zur Differenz: Im ersten Moment der Gegenwart des Erfassens der Intervention ist deren Begreifen als mentaler Prozess bereits Ver­gangenheit, der die Gegenwart der folgenden Zukunft zum Einwand gegen das vorangehende Raumverständnis werden lässt. Die Differenz der Intervention als Eingriff und Einwand wandelt die materielle Handlung des Künstlers zu einer geistigen Erfahrung eines Raum-Zeit-Flusses, der das künstlerische Werk als stets präsente und nutzbare Gegenwart im Sinne des schönen Scheins aufhebt und es zu einer grundlegend geistig, philosophischen Erfahrung werden lässt.


2000, „Interventionen in Baden-Baden“ (deutsch), Dirk Teuber

veröffentlicht im Katalog "Sieben Interventionen" 2000

In einer weiten, unendlich scheinenden Landschaft sind Menschen zu sehen, Männer, bewaffnet, wehrhaft. Einer von ihnen stemmt entschieden sein Gewehr in den Boden. Diese Männer mit ihren einfachen Gesichtsmasken, die den Eindruck einer geheimnisumwitterten Organisation erwecken, kamen auf Pferden daher geritten. Sie posieren mit riesigen Scheren vor einem primitiven Drahtzaun. Zwei von ihnen scheinen den Draht zerschneiden zu wollen. Eine seltsam theatralische, fast gespenstische Szene. Bedingungen des Lebens in einem freien Land scheinen auf, Konfliktstoff zwischen Besitzstandswahrung und den Grenzen der Freiheit. Doch Farmer und Viehzüchter müssen Zäune um die Weiden ziehen, mithin dem Kodex vom freien Land zuwider handeln, und so auch Privatbesitz sichtbar machen.

Der Mechanismus des Privatbesitzes impliziert Abgrenzung, Grenzziehung, die Spirale der Gewalt in nuce. Sich wehren fordert wehren heraus, aber auch den Schein vom Mythos der Freiheit, von der Utopie der Chancengleichheit, ist doch Freiheit der Menschen immer Freiheit in Bedingungen.

Das Projekt, dem dieses Foto als Einladung und Plakat dient, baut auf jenen politisch wirtschaftlich bzw. gesellschaftlich moralisch zu rechtfertigenden, wohl unaufhebbaren menschlichen Widerspruch auf, den Widerspruch zwischen öffentlich und privat.
In den sieben Interventionen, die er aus Anlass des Baldreit-Stipendiums der Stadt Baden-Baden realisiert hat, denkt Till Exit über die Relation von privat und öffentlich nach, über intimen Schutzraum und ästhetischen Voyeurismus, über Zei­chen, ihre verbindliche Unverbindlichkeit, aber auch über Eigentum und Eigenheit, Leben und Lebenskontexte, als Bildfinder, Bilderfinder und Geschichtenerzähler.

Zu Beginn seines Baldreit-Stipendiums 1999 hatte Till Exit durch Presseveröffentlichungen und vielfältige Gespräche angekündigt, dass er in Privatwohnungen, mithin in sonst nicht öffentlich zugänglichen Räumen, Werke installieren bzw. im Kontext zu diesen entwickeln möchte. Im Laufe des Jahres 1999 - 2000 ergaben sich daraus eine Reihe von persönlichen Kontakten und Besuchen, die zu den in diesem Band dokumentierten Arbeiten führten.
Till Exit hat den Musiker und Komponisten, den Architekten, die Redakteurin, den Bildhauer und den Kunsthistoriker in ihren eigenen vier Wänden aufgesucht, die immer auch Lebensentwürfe sind, mit all ihren Wünschen, Vorlieben, Abneigungen und Unwägbarkeiten. Er hat sie auf Zeit mit Bildern, Installationen, Eingriffen künstlerisch versorgt, um Räume zu markieren, die etwas über seine wie ihre Lebenssicht sagen. Zugleich ist es eine Erweiterung des Ateliers, denn so gewinnt er Räume zur Erprobung von Bildideen und Werkformen, die auf die vorhandene Architektur und die Menschen reagieren. Es sind in vergleichsweise kurzer Zeit parallel entwickelte Modellsituationen verwirklicht worden, die bereits im Prozess der Entstehung ein kritisch kommentierendes Publikum fanden. Er hat dabei Formen gesucht, welche etwas offenbaren, was für die Bewohner, vielleicht unbewusst, als eine immanente Struktur gelebt wird. Dies sind atmosphärische Momente, vor allem im Bewusst­sein dessen, dass es keine verbindlichen Zeichen, keine eineindeutigen Codes gibt.
Der Lohn der Zumutung dieser Interventionen ist die momentane Verrückung der gewohnten Lebensräume. Hier mehr eine Galerie, eine fast museale Inszenierung, dort eher eine seltsam elegische Stimmung. Dann wieder eine Garderobe für Schutzkleidung, die keinen Schutz bietet, denn sie ist aus Papier gefertigt, über einer mehr als dreißig Meter langen Reihe gleißender Neonröhren. Hüllen sind allenthalben zu finden, etwa um Bücher, Hüllen, Umschläge, die schützen, den Gebrauch erschweren, die Worte und die begriffliche Argu­mentation, aber auch das visuelle Erinnerungsvermögen in seine Grenzen verweisen. Von den bunkerähnlichen, massiven Dämmplattenobjekten mit an Sehschlitzen erinnernden Ver­tiefungen, die auf geheimnisvolle Weise die Gewichtung des Raums verändern, wandern die Gedanken in eine weiße, weiche Fläche mit winziger Figur und Fragmenten einer technischen Konstruktion in kargen Acrylspuren gezeichnet, die unversehens an eine Schneelandschaft gemahnt. Die Dopp­lung der Dämmplattenobjekte wiederholt sich in dem Leucht­kasten mit einer Fotografie von Zwillingen, die sich mit den dunklen Hausobjekten verbinden. Sie suggerieren in dem sperrigen Volumen Geheimnisvolles, Verborgenes. Fragilität und Massivität, räumliche Präsenz hält sich in dem gesamten Projekt im Gleichgewicht, aber auch Widerspruch und Kontingenz. Allen Arbeiten ist die Suche nach dem nicht bloß Imaginären, sondern den ganz real wirksamen Räumen der Vorstellung, des davor Gestellten immanent, dessen, was das Bild von der Welt jedes Einzelnen besetzt.
Formelhaft wird dies etwa in einem Werk deutlich, das die Fotografie eines Cowboys in einen körpergroßen Leucht­kasten eines Schwarz-Weiß-Negativs transformiert und ambivalente Rollenzuweisungen und Rollenklischees enthüllt. Die Gestalt erscheint mit Sombrero, Lederleggins, Revolvergürtel und Lasso ausgestattet, naturbeherrschend und mithin angstbesetzt, wie in der falschen Haut, gezwungen etwas zu tun, was im Innersten ist und nicht ist, eine gewisse Einsamkeit, in ein Leben gesteckt zu sein, was authentisch man selbst ist und nicht ist. Und so offenbaren sich die Räume durch die Interventionen als Bilder ihrer Wert- und Weltorientierungen.
Ähnliche Figuren wie auf dem Plakat tauchen in den Ausstellungsräumen des Alten Dampfbades auf in flüchtigen Bildern aus eigentümlich archaisch anmutenden, einfachen Projektoren, die zu Zeiten der DDR als "Jugendbildwerfer" produziert wurden. Till Exit inszeniert die Laternae Magicae als Bildwerfer für Hoffungen, Ängste, Utopien, Kinderspielzeug, mit dem Mythen fortgeschrieben werden, Mythen des Kampfes um die Existenz, der Eroberung, der unendlichen Machbarkeiten, der Freiheit. In den Projektionen erscheinen zeitweilig aufleuchtend und wieder verlöschend, wehrhafte Menschen wie Schatten ihrer selbst. Es sind hoffnungslose Krieger am falschen Ort, Soldaten aus Bildern zwischen Jahrhundertwende und beiden Weltkriegen, aus Fotos der 50er Jahre, die Bürgerkriegskämpfe dokumentieren, auch aus authentischen Fotos der Kriegsberichterstattung des 20. Jahrhunderts, menschliche Gestalten, die ausgeschnitten wie Spielfiguren wirken. Das kriegerische Pathos im Bild ist bereits gestelzte, damit gebrochene Pose. Herausgelöst aus dem Umfeld wird die Konzentration auf das Individuum gelenkt, in einem ewig gesichtslosen, für den Einzelnen stets zur Gänze undurchschaubaren Krieg. Dem Reigen der immateriellen Projektionen ist das Modell spiritueller Erlösung zugeordnet, in Gestalt einer trutzigen Kirche, ebenso monumental wie perfekt in industriell gefertigtem HDF, unnahbar und uneinnehmbar wie eine Burg. Kirche erscheint Till Exit als "potenzierte Privatheit", nach außen hin offen für alle, aber zu sehr von Weltbildprämissen und -zwängen besetzt, um sich wirklich zu öffnen, als Institution mit hohem moralischen Anspruch an den Einzelnen, der des Schutzes und der Erlösung teilhaftig werden will. Kirche ist hier Metapher für kanonische Werte, für Verhalten, für Muster, für Hierarchien, auch für das Ornament der Existenz, für die Suche nach Gestalt und Gestaltung, nach Gesetz und Gesetzmäßigkeit, Ordnung dessen, was Leben in sich birgt und wohl erst möglich macht.

Exit will Kunst als Störfall verstehen, als Grenzverwischung, als Befragung von Kategorien des Gewohnten, des gesamten Lebenszusammenhangs. Die Erzählung insgesamt, die Exit entfaltet, ohne um narrative Stringenz bemüht zu sein, die Erzählung wird sicht- und lesbar im Gefüge der miteinander ins Spiel gebrachten Räume, der Situationen, Menschen und ihrer Lebensentwürfe. Das gilt auch nur für eine gewisse Zeit, denn diese Arbeiten als Ganze können nicht ohne die Räume existieren, in denen sie installiert sind, weil der jeweilige spezifische Umkreis, der nicht vom Künstler bestimmt ist, konstituierend dazu gehört. Die verwendeten Materialien, die Ob­jekte, finden ihren Weg zurück ins Lager, teilweise muss das Werk in seiner materiellen Substanz zerstört werden, löst sich das Ganze vollständig auf, denn es geht nicht um die Herstellung und Präsentation von handelbaren Objekten. Was bleibt also? Nichts als ein Bild, ein Katalog, der die einzelnen Interventionen dokumentiert, als reproduzierte Fotografie, als Vehikel der Erinnerung, als Ziel, dieses einmal so gemacht, gesehen und so unvollkommen für die begrenzte Dauer dieser Lebenszeit festgehalten zu haben